Die Blasrohrnarkose
Richtiger ist eigentlich der Begriff Distanzimmobilisation, denn die Narkose mittels Blasrohr ist nur eine Möglichkeit diese Durchzuführen. Neben dem Blasrohr ist es auch möglich mit der Pistole oder dem Gewehr zu schießen. Während die Benutzung eines Blasrohres für Tierärzte ohne weiteres möglich ist, da wir ja bereits mit den Arzneimittel- und lebensmittelrechtlichen Vorschriften und Gesetzen vertraut sind, unterliegt die Nutzung von Narkosegewehr und Narkosepistole besonderen Auflagen. Hierfür ist das absolvieren eines Kurses mit einer schriftlichen Prüfung im Waffenrecht und einer praktischen Schießprüfung ein notwendiges Muss. Am häufigsten wird die Distanzimmobilisation von Zootierärzten angewendet – die Gründe hierfür sind offensichtlich, da es bei vielen Zootieren gar nicht möglich ist nah genug an sie heranzukommen, um ihnen eine Narkosespritze zu verabreichen. Dabei ist es egal ob man nicht rankommt, weil sie zu gefährlich sind oder einfach nur zu scheu. Aber auch außerhalb des Zoos gibt es genügend Einsatzmöglichkeiten: Bei bissigen und aggressiven Hunden und Katzen, die noch nicht einmal mehr von ihren Besitzern angefasst werden können, Rinder – z.B. Tiere in Mutterkuhherden die medizinisch versorgt werden müssen und die in den seltensten Fällen handzahm sind, Gehegewild z.B. um Unrat aus dem Geweih zu schneiden, entlaufene Tiere (das kann eine entwischte Kuh sein oder auch ein Hund welcher auf die Autobahn gelaufen ist und sich nicht mehr einfangen lässt), oder im Ernstfall ein Pferd welches im oder mit dem Anhänger verunglückt ist und eine Bergung durch die Retter nur unter großer Gefahr möglich wäre.
Wann wählt man welches Gerät? Alles was im Nahbereich ist wird mit dem Blasrohr erledigt. Je geübter der Schütze ist, desto weiter ist der Radius, den das Blasrohr abdeckt. Längere Blasrohre erhöhen dabei die Präzision auf größeren Distanzen. Ich habe daher ein zerlegbares Blasrohr mit einer maximalen Länge von 180 cm und bin damit dann recht flexibel. Eine Distanz von bis zu 10 Metern ist damit gut zu bewältigen, darüber hinaus braucht es viele Zielübungen und eine gute Puste. Das Narkosewehr ist für die größten Distanzen geeignet und wird zum Beispiel verwendet, um Giraffen in freier Wildbahn zur Besenderung zu schießen. Für kurze Distanzen, in denen das Blasrohr oder die Pistole besser geeignet sind, ist das Gewehr ungeeignet, da es sonst zu schwerwiegenden Verletzungen kommen kann – zu viel „Bums“ dahinter.
Grundsätzlich muss man festhalten, dass die Distanzimmobilisation häufig auch nicht funktioniert und dafür gibt es viele gute Gründe. Was in Film und Fernsehen häufig so easy aussieht, muss in den meisten Fällen minutiös geplant werden und ist keine One-man-Show sondern benötigt ein eingespieltes Team.
Hat man die „Waffe“ gewählt, so muss man sich Gedanken zum passenden Narkosemedikament machen. Das ist abhängig von dem Eingriff, der vorgenommen werden soll, aber auch von der Tierart, die in Narkose gelegt werden muss. Erschwerend kommt hinzu, dass man in der Menge des einzusetzenden Medikamentes eingeschränkt ist. Ein kleiner Blasrohrpfeil kann mit 1,5 ml beladen werden, ein großer mit 3 ml. Das ist nicht viel und man benötigt spezielle sehr hoch dosierte Narkosewirkstoffe, um viel Wirkung in eine kleine Menge Flüssigkeit zu bekommen. Sonst benötigte man für einen 80-100 kg Damhirsch eigentlich bis zu 10 ml einer Standardnarkosemischung. So ein Tier bleibt aber nach einem Treffer mit einem Pfeil nicht einfach stehen und wartet bis man zwei weitere abgefeuert hat.
Hier liegen auch schon weitere Fehlerquellen: Während wir in der Kleintierpraxis die Tiere vor der Narkose auf das Gramm genau wiegen können, muss bei der Distanzimmobilisation geschätzt werden – da liegt man schnell mal 10 oder 20 oder 30 kg daneben. Außerdem reagieren Wildtiere unberechenbar auf die Narkosemedikamente und es gehört eine Menge Erfahrung dazu, dies im Vorfeld richtig einzuschätzen.
Als weitere Unwägbarkeit kann alles drum herum ebenfalls schief gehen: Die getroffenen Tiere fallen nicht an Ort und Stelle narkotisiert um. Stattdessen kann es 15 Minuten und länger dauern, bis die Medikamente wirken. Die Tiere sind in dieser Zeit auf der Flucht. Dabei können sie in Zäune rennen, Abhänge herunterstolpern oder in Wassertröge oder Pfützen fallen. Außerdem sind die Tiere sehr sensibel und „riechen oft frühzeitig Lunte“. So aufgeregte Tiere sind voller Adrenalin und die Narkose wirkt schlecht bis gar nicht. Man tut also gut daran alle unnötigen Personen aus der Umgebung zu entfernen und ruhig und präzise an die Sache heranzugehen. Falls planbar, sollten Gefahrenquellen schon einen Tag vorher entfernt werden, um am Tag der Narkose nicht noch zusätzlich für Aufregung zu sorgen.
Hat man alles geschafft, der Pfeil sitzt, die nötige Medikamentenmenge wurde appliziert, das Tier schläft, ohne sich verletzt zu haben, dann muss der eigentliche geplante Eingriff durchgeführt werden oder das Tier für den Transport vorbereitet werden (außer in speziellen Einzelfällen darf das Tier aber nicht narkotisiert transportiert werden – wieder eine Herausforderung). Es gilt die für jede Tierart möglichen Komplikationen im Hinterkopf zu behalten und gegenzusteuern. So muss ein Wiederkäuer z.B. in die rechte Seitenlage oder Brust-/Bauchlage gebracht werden, damit der Pansen nicht aufgast, denn dies kann zum Tode führen. Gefürchtete Komplikationen sind auch Erbrechen und anschließendes Einatmen des Erbrochenen. Während wir vor geplanten Eingriffen bei Hund und Katze die Tiere nüchtern lassen können und bei Not-OPs zumindest ein Medikament gegen Erbrechen spritzen können ist dies bei den Wildtieren nicht möglich – ein Risiko was im Vorhinein abgewogen und besprochen werden sollte.
Ist man mit allen Verrichtungen fertig (die Gelegenheit der Narkose kann man nutzen und auch noch einen Gesundheitschek durchführen, Blut nehmen oder Pflegemaßnahmen ergreifen), so gibt man eine Aufwachspritze, damit die Tiere nicht länger als nötig schlafen müssen. Ist der Patient dann wieder geh- und stehfähig, also wach, dann ist man erleichtert und freut sich, dass alles reibungslos funktioniert hat.
Ihr habt nun gesehen, wie aufwändig so eine Distanzimmobilisation ist. Man braucht ein Team, viel Zubehör und noch mehr Wissen, Übung und Erfahrung.